Corona-Tagebuch: Tag 050

20.05.2020

8. Mai. Ich war heute mit einem kleinen Strauß aus meinem Garten auf dem Anger am Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten. Auf eine der Grabplatten habe ich die Blumen gelegt. Eben habe ich versucht, aufzuschreiben, was meine Eltern vor 75 Jahren gemacht haben. Meine Mutter war 19 und mein Vater 20. Sie kannten sich noch nicht. Sie hatten den Krieg überlebt. Es ist keine besondere Geschichte. Das, was sie erlebten, war das, was eine ganze Generation erlebte. Beide mussten noch sehr weite Wege zu Fuß zurücklegen, ehe sie sich kennen lernten. Ein paar von den Geschichten, die sie mir erzählten, haben sich mir tief eingeprägt, haben mich geprägt. Jetzt wartet eine Maibowle mit Waldmeister und Erdbeeren auf mich.

(Nicht veröffentlichte Variante: 8. Mai. Vor 75 Jahren war meine Mutter 19 und mein Vater 20. Sie kannten sich noch nicht. Sie hatten den Krieg überlebt. Mein Vater war als Soldat bis auf die Krim gekommen und wurde nun, als Gefangener wieder dorthin geführt. Seine Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister warteten auf ihn in einem Bauernhaus, in dessen Giebel ein Loch klaffte. Meine Mutter, ihr kleiner Sohn (der Vater des Kindes war in den letzten Kriegstagen gefallen), ihre Eltern und ihre Schwester würden bald Haus und Hof und Schmiede für immer verlassen müssen. Das Dorf, in dem sie lebten, gehört heute zu Polen. Auf mich wartet jetzt eine Maibowle.)