Warum fragen wir so oft und so gerne nach dem autobiografischen Hintergrund eines schriftstellerischen Werkes? Wir wissen doch, dass ein Krimiautor weder Polizist noch Mörder sein muss, um seine Krimis zu schreiben.
Wir wissen aber auch, dass unser Leben und der Alltag unserer Freunde und Verwandten Stoff hergibt für die Geschichten, die wir schreiben. Manchmal fragen wir: Wie kommt die Realität in den Text? Wie verwandeln wir das, was wir erleben und erfahren in Literatur?
Als ich mit dem Schreiben begann – ich war 12/13 Jahre jung – hielten uns Hildegard und Siegfried Schumacher, die Schriftsteller, die unseren Zirkel schreibender Schüler leiteten, dazu an, über das zu schreiben, was unser unmittelbares Lebensumfeld war. So schrieb ich nach einem großen Friedensgedicht und einem etwas kleineren Solidaritätsgedicht bald ein Gedicht über den Kirschbaum in unserem Garten und etwas später, auf einer Rügen-Reise mit dem Zirkel ein Gedicht über den Königsstuhl an einem regnerischen Tag. Natürlich gingen mich auch Frieden und Solidarität direkt an. Aber es war viel schwerer, sie in Worte zu fassen, die andere direkt ins Herz trafen. Und da wollen wir ja hin mit unserer Kunst – oder?
Einige Schüler aus unserem Zirkel, darunter auch ich, bekamen die Möglichkeit, nach Auschwitz zu reisen. Zwei Zeitzeugen begleiteten uns. Wir merkten, wie schwierig es ist, über eine Zeit zu schreiben, die so weit von uns entfernt ist. Die persönlichen Geschichten der beiden ehemaligen Häftlinge halfen uns nur wenig. Viele Jahre später bin ich als Anleitende mit schreibenden Jugendlichen in Auschwitz, Sachsenhausen und Ravensbrück gewesen. Ich hielt sie dazu an, die Dinge erzählen zu lassen, die als Zeugnisse vor Ort sind oder zu beschreiben, was in ihnen, den Jugendlichen, vor sich geht, wenn sie durchs Lagertor schreiten, wenn sie zwischen den Grundrissen der Baracken stehen, wenn sie dem Audioguide zuhören.
Ich habe mich damals intensiv mit der Frage beschäftigt: Wofür haben wir Worte und wann schweigen wir? Wer spricht, wenn wir schweigen? Ich lernte, dass es in Auschwitz eine Lagersprache gab.
Aber das sind andere Themen. Zurück zur Frage nach dem autobiografischen Hintergrund.
Es gibt Autorinnen und Autoren, die ganz bewusst ihr eigenes Leben der Öffentlichkeit preisgeben. Vom autofiktionalen Schreiben zur Influencerin ist es vielleicht nur ein kleiner Schritt. Aber auch sie werden unter Umständen nicht gern gefragt: Hatten Sie wirklich eine so traurige Kindheit?
Ich glaube, wer diese oder ähnliche Fragen stellt, verkennt, was Literatur will und kann. Es geht gar nicht darum, den Autor/die Autorin besser kennen zu lernen. Es geht darum, sich selbst in der Kunst wiederzuentdecken. Es geht um dieses magische Dreieck zwischen Autor, Werk und Leser. Der Leser will eine Geschichte, die mit ihm zu tun hat, die ihm vielleicht zeigt: meine Schwierigkeiten mit meinem Vater oder mit meiner Mutter, die hatte nicht nur ich, die hatte in ähnlicher Form die Heldin/der Held der Geschichte, die ich gerade lese. Und wie geht die Geschichte aus? Genauso wie meine oder anders? Damit erweitern wir als Leser unseren Erfahrungs – und unseren Gefühlshorizont.
Meiner Meinung nach geht es demzufolge gar nicht um den autobiografischen Hintergrund des Autors, sondern um den der Leserin bzw. des Lesers.
Wenn uns als Autorinnen und Autoren eine solche Frage gestellt wird, kann das bedeuten, dass wir gerade bei diesem Leser ins Schwarze getroffen haben, dass wir auf Resonanz gestoßen sind.
Noch einmal zurück zum Anfang. Als ich zu schreiben begann, suchte ich nach Vorbildern. Eine war Eva Strittmatter. Ich wusste damals fast nichts von ihrem Leben. Erst als ihr Mann Erwin gestorben war und sie Gedichte über die Beziehung veröffentlichte, erst als öffentlich wurde, dass seine Rolle im II. Weltkrieg eine andere war als die, die er in seine Lebensläufe schrieb, erst da musste ich mich mit den autobiografischen Hintergründen des Schriftstellers und der Poetin befassen. Die Söhne der beiden sagten damals sinngemäß, dass die Zeit zeigen wird, ob das Werk Erwin Strittmatters überleben wird. Ob es trotzdem gelesen wird oder nun erst recht.
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob ich aufhöre, Texte von einem Menschen zu lesen, der sich moralisch falsch verhalten hat. (Moral … ich lasse das jetzt so stehen.) Denn ich bin mir nicht sicher, ob und bei wem ich Leben und Werk getrennt betrachten soll oder als Einheit.
Ich würde gerne mit den Leserinnen und Lesern dieses Beitrages darüber ins Gespräch kommen.
PS: Ich weiß nicht, ob auch Malerinnen, Bildhauer, Komponisten und Fotografinnen nach dem autobiografischen Hintergrund ihrer Werke gefragt werden.
PPS: Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass beim Lesen noch viel mehr passieren kann. Es kann sein, dass wir Vergnügen daran haben, wie die Autorin/der Autor mit der Sprache umgeht. Es kann sein, dass wir laut lachen. Es kann sein, dass wir entspannt einschlafen und die Geschichte weiterträumen.
PPPS: Oben erwähntes sich identifizieren mit einem Helden oder Antihelden macht auch deutlich, warum wir Geschichten über Rinderzüchter, Millionärinnen, tieftraurige junge Frauen, Verliebte, alte Trinker, Katzenliebhaber, elegante Betrüger, über … unsere so vielfältige Welt brauchen.